Die Digitalisierung zwingt das IKRK und andere humanitäre Organisationen dazu, ihre Arbeitsweise zu überdenken. Wie sich die humanitäre Arbeit von Hilfsorganisationen in Zukunft verändern wird, erläuterte Philippe Marc Stoll auf Einladung der Digital Society Initiative kürzlich an der UZH.
Autorin: Cristina Teleki
Das Streben des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) nach Digitalisierung habe mehrere Gründe, erläuterte Philippe Marc Stoll, Digital Transformation Manager beim IKRK in seinem Vortrag: Erstens präge die Digitalisierung das Leben der betroffenen Bevölkerungsgruppen, denen das IKRK im Rahmen seines Mandats dient – also der Zivilbevölkerung – auch in Zeiten bewaffneter Konflikte und anderer Gewaltsituationen immer stärker.
Wenn Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind, einen sicheren Ort erreichen, lauteten ihre ersten Fragen oft: «Wo kann ich mein Handy aufladen?» und «Gibt es WLAN?». Die Tatsache, dass immer mehr Menschen vernetzt sind, eröffnet Möglichkeiten, ihnen zu helfen, Familienbeziehungen aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Daten über Migrationsrouten könnten gesammelt und analysiert werden und genaue Informationen über Dienstleistungen wie Krankenhäuser und Unterkünfte können angeboten werden.
Im weiteren ermutigen Geberstaaten, die humanitäre Einsätze unterstützen, das IKRK, Auftritt und Einsätze teilweise zu digitalisieren. Und schliesslich erachte es das IKRK selbst als eine Pflicht, mit der Zeit zu gehen und eine Vorreiterrolle zu spielen, anstatt der digitalen Entwicklung hinterherzuhinken. Daraus würden sich folgende Herausforderungen für die Organisation ergeben, wie Stoll ausführte.
Vertrauen in die Online-Welt
Das IKRK ist für seine Arbeit auf das Vertrauen aller Staaten, Parteien und Menschen angewiesen, die in einen militärischen Konflikt oder in eine andere Gewaltsituation verwickelt sind. Dieses Vertrauen ist die Grundlage für die Akzeptanz des IKRK-Mandats und der Arbeitsabläufe, die für eine sichere Erbringung von Hilfs- und Schutzdiensten notwendig ist. Vertrauen ist jedoch in der Online-Welt nur schwer zu sichern und zu erhalten.
Der jüngste Cyberangriff auf das IKRK hat das zweifelsfrei bewiesen. Am 9. November 2021 wurden IKRK-Server, auf denen personenbezogene Daten von mehr als 515’000 Menschen weltweit gespeichert waren, durch einen ausgeklügelten Cyberangriff gehackt. Zu den Betroffenen zählten Vermisste und ihre Familien, Gefangene und andere Menschen, die aufgrund von bewaffneten Konflikten, Naturkatastrophen oder Migration von der Rotkreuz- oder der Rothalbmondbewegung betreut wurden.
Solche Ereignisse zeigen, welchen Herausforderungen die humanitäre Arbeit online ausgesetzt ist und welche Fähigkeiten humanitäre Organisationen benötigen, um Cybervorfälle zu verhindern und zu bewältigen.
Standards zum Datenschutz
Als regulatorische Reaktion auf die wachsende Bedeutung von Daten in allen Lebensbereichen werden weltweit mit unterschiedlicher Geschwindigkeit Datenschutzvorschriften erlassen. Gegenwärtig gibt es in etwa 120 Ländern Datenschutzgesetze oder andere Arten von gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Privatsphäre.
Dank neuer Technologien und der zunehmenden Vernetzung der Welt können immer grössere Datenmengen immer schneller und einfacher verarbeitet werden. Dadurch erweitern sich aber auch die Möglichkeiten, in die Privatsphäre des Einzelnen einzudringen.
Das IKRK hat Datenschutzstandards zur Wahrung der Integrität, der Vertraulichkeit und der Verfügbarkeit personenbezogener Daten entwickelt, die die Rechte, die Freiheiten und die Würde der Personen schützen, mit denen die Organisation interagiert und deren Daten sie verarbeitet. Ausserdem hat das IKRK als unabhängige Kontrollinstanz ein Datenschutzbüro eingerichtet.
Geeignete Technologien
Neutralität ist ein Grundprinzip der Rotkreuzbewegung, der das IKRK angehört. Das Neutralitätsprinzip sieht vor, sich jeglicher Beteiligung an politischen, rassischen, religiösen oder ideologischen Kontroversen zu enthalten, um das Vertrauen aller zu geniessen. Dieser Grundsatz ist mehr als sinnvoll: Wer Partei ergreift oder sich einmischt, kann eine der beteiligten Seiten entfremden oder täuschen, sie zurückstossen und ihr Vertrauen verlieren.
Technologieneutralität bedeutet die Freiheit von Einzelpersonen und Organisationen, die für ihre Bedürfnisse und Anforderungen am besten geeignete Technologie zu wählen, ohne dabei von einer bestimmten Form von Wissen oder Daten abhängig zu sein.
Die zunehmende Digitalisierung des IKRK wirft unweigerlich einige heikle Fragen zur Nutzung von Technologie auf. Diese Fragen werden vom Präsidenten des IKRK in Gesprächen mit den Verantwortlichen der «Big Five» (Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft) angesprochen.
Ausserdem haben Social-Media-Giganten 2022 zu Beginn des Kriegs in der Ukraine das IKRK um Ratschläge gebeten für die Umsetzung bewährter Praktiken zum Umgang mit den auf ihren Plattformen kursierenden Informationen über Kriegsgefangene und andere geschützte Gruppen. Diese Beispiele zeigen, wie der Weg zu einem besseren Verständnis des Neutralitätsprinzips sowohl bei staatlichen als auch bei nichtstaatlichen Akteuren, wie den großen Technologieunternehmen, geebnet werden könnte.
Forschung und Entwicklung
Das IKRK ist sich der Tatsache bewusst, dass neue, durch den Einsatz von Technologie entstehende Probleme neue Lösungen erfordern. Aus diesem Grund hat sich die Organisation im Rahmen der Initiative «Engineering for Humanitarian Action» mit der ETH Zürich und der EPFL zusammengeschlossen.
Diese Partnerschaft zwischen IKRK und Wissenschaft ermöglicht es, das Fachwissen der beiden Hochschulen für humanitäre Programme nutzbar zu machen. Die Schwerpunkte liegen dabei auf den Bereichen Energie und Umwelt, Datenwissenschaften und digitale Technologien sowie personalisierte Gesundheit und verwandte Technologien.
Humanitäre Organisationen können die zahlreichen Herausforderungen der um sich greifenden Digitalisierung erfolgreich bewältigen, indem sie an ihren Gründungsprinzipien festhalten, Pionierarbeit bei der Festlegung von Standards leisten und gemeinsam mit Universitäten evidenzbasierte Strategien entwickeln.
Dieser Text ist Teil der Reihe «DSI Insights» auf «Inside IT»
Dr. Cristina Teleki ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf, wo sie sich mit Menschenrechten und Wettbewerbsrecht beschäftigt. Sie ist zudem Delegierte beim IKRK und Mitglied der Digital Society Initiative (DSI).
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