Zehn Jahre nach ihrem Aufkommen steht die Gig-Economy, also die Vermittlung von Kürzestarbeitseinsätzen über digitale Plattformen, an einem Scheidepunkt. Als einer der ersten begann Niels van Doorn von der Universität Amsterdam diese Jobs zu erforschen. Auf Einladung der Digital Society Initiative zog van Doorn an der UZH kürzlich Bilanz.
Autorin: Karin Schwiter
Geboren wurde die Gig-Economy aus den Nachwehen der globalen Finanzkrise von 2008/2009. Es dominierten eine hohe Arbeitslosigkeit und der Wunsch, die eigene Chefin zu sein; eine lockere Geldpolitik und der Glaube an digitale Technologien als Prosperitätstreiber; sowie die rasche Verbreitung von Smartphones. Sie schufen zusammen die Bedingungen für das Aufkommen von digitalen Plattformen zur Vermittlung von Kürzest-Jobs. Taxiservices (Uber), Lieferdienste (Deliveroo) und ähnliche Dienstleister fassten insbesondere in tech-affinen Städten Fuss und rekrutierten ein Heer an Arbeitskräften.
In der Folge, argumentierte Niels van Doorn, Professor für Neue Medien und Digitale Kultur an der Universität von Amsterdam, standen jedoch sehr schnell nicht mehr die Arbeitskräfte im Zentrum, die über digitale Plattformen Dienstleistungen erbringen. Stattdessen wurde die Entwicklung der Branche von Finanzialisierung und Datafizierung geprägt.
Die Investoren und Investorinnen sahen ein riesiges Potenzial für eine schnelle Skalierung und kurbelten das Wachstum der Firmen mit grossen Mengen an Risikokapital an. Die Möglichkeit, Daten über die Fahr- oder Lieferrouten und über weitere Lebensgewohnheiten von Millionen von Menschen zu gewinnen und mittels künstlicher Intelligenz auszuwerten, wurde zu einem der zentralen Gewinnversprechen.
Ausnahmestatus kommt unter Druck
Aufgrund ihrer neuartigen Geschäftsmodelle forderten die Plattformen anfangs oftmals einen Sonderstatus ein und fanden Wege, die geltenden Regulierungen in ihren Branchen zu umgehen. Schritt für Schritt reduzierten sie zudem ihre Arbeitskosten mit gezielten spielebasierten Anreizsystemen für die Gig-Arbeitenden. «In den letzten Jahren kam dieses ‘Plattform-Ausnahmeregime’ jedoch von verschiedenen Seiten unter Druck», diagnostiziert van Doorn.
In vielen Städten wehren sich Plattformarbeitende inzwischen gegen zunehmend ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Sie fordern transparentere und höhere Löhne sowie Sozialversicherungsleistungen. Regulierungsbehörden und Gerichte klassifizieren Gig-Arbeitende als Arbeitnehmende und sprechen ihnen Entschädigungen zu.
Als Folge davon erachten inzwischen verschiedene Investorinnen und Investoren sowohl die finanziellen als auch die Reputationsrisiken als zu gross und zögern mit weiteren Kapitalzuschüssen. Die Gig-Plattformen kontern die merkliche Abkühlung der Anfangseuphorie mit einer Charmeoffensive und mit neuen Arbeitsmodellen.
In der Covid-19-Krise etablierten sie Partnerschaften mit Städten und ihren öffentlichen Institutionen. So warb beispielsweise die Plattform «Doordash» damit, dass sie das Mittagessen der öffentlichen Schulen in New York direkt zu den Kindern nach Hause lieferten. Um die Arbeitskosten trotz verlorenen Gerichtsentscheiden nicht steigen zu lassen, experimentieren die Plattformen mit Subcontracting-Modellen, in welchen Plattformarbeitende nicht als ihre Arbeitskräfte gelten.
Wohin steuert die Gig-Economy in Zukunft?
«Die goldenen Jahre sind vorbei», bilanziert Niels van Doorn und erwartet eine weitere Konsolidierung des Marktes, die nur eine Handvoll der grössten Unternehmen überleben werden. Mit dem schrittweisen Verlust ihres Ausnahmestatus gleichen sich die Arbeitsmodelle der Plattform-Firmen zunehmend den übrigen Branchen im Tieflohnsektor an.
Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Zusammensetzung der Arbeitskräfte: «Vor zehn Jahren war es für junge Leute verschiedener sozialer Schichten hip, als selbständige Fahrradkurier:innen durch Berlin zu kurven. Heute sind Plattformarbeitskräfte fast ausschliesslich neu ankommende Migrantinnen und Migranten, denen der Zugang zu besseren Jobs verwehrt ist.»
Solange jedoch Risikokapital in diesen grossen Mengen verfügbar ist und eine umfassende Regulierung von Gig-Jobs ausbleibt, werden in der Gig-Economy wohl stets neue Businessmodelle entwickelt, die von Lücken und Umgehungsmöglichkeiten in den bestehenden Regulierungen profitieren und die Hoffnung der Investor:innen schüren, bei der Geburt des nächsten Einhorns dabei gewesen zu sein.
Dieser Text ist Teil der Reihe «DSI Insights» auf «Inside IT»
Prof. Karin Schwiter ist Wirtschaftsgeografin und leitet an der Universität Zürich die Forschungsgruppe Arbeitsgeographie. In ihrem jüngsten Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit der Transformation von Care-Arbeit durch digitale Arbeitsvermittlungsplattformen. Sie ist Mitglied der Digital Society Initiative (DSI) und Scientific Chair der DSI Community Work.
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