Zwei Kaffees und ein Eiswürfel; zwei neue Apps, Mobilität, Bildung und Barrieren. Wie passt dies zusammen? Im Interview mit ZHAW-Forscher und UNESCO-Preisträger Alireza Darvishy erfährst du mehr.
Es ist der 22. Juli 2022. Ich treffe mich mit Prof. Alireza Darvishy, dem Gründer und Leiter des ICT Accessibility Labs am ZHAW Institut für angewandte Informationstechnologie zu einem Kaffee in der Stadt Zürich. Treffpunkt ist die Tramhaltestelle Opernhaus, zwischen Bahnhof Stadelhofen und Zürichsee. Um 8:00 ist es noch angenehm kühl und wir entscheiden uns für einen Sitzplatz draussen bei einem Kaffee in der Nähe. Auf dem Weg dorthin wird mir bewusst, wie schwierig es für Menschen mit Beeinträchtigungen ist, sich von A nach B zu bewegen. Alireza hat seit er 16 ist eine starke Sehbeeinträchtigung. Er ist in unbekannten Gegenden auf Unterstützung angewiesen. Auf dem Weg zum Kaffee stützt er sich an meinem Arm und ich warne ihn bei kleineren und grösseren Hindernissen. Etwa als ein Arbeiter den Gehweg mit einem Gartenschlauch bewässert und als wir über die Strasse, Bordsteine oder Stufen laufen.
Hindernisse auf dem Weg: digitale Lösungen
Ich bestelle für uns zwei Kaffis sowie einen Eiswürfel. Alireza kühlt sich damit eine Beule – erst heute Morgen hat er sich den Kopf angeschlagen. Alltagsprobleme, die ihn einschränken oder gefährlich werden können, haben allerdings unter Umständen auch eine positive Seite: Sie inspirieren ihn für neue Forschungsprojekte. Ein grosses Thema, das gerade am ICT Accessibility Lab untersucht wird, ist daher die Mobilität.
Alireza, welche Projekte mit Fokus Mobilität laufen aktuell bei euch?
Gerade befassen sich gleich zwei Projekte parallel damit. Im Rahmen meines DIZH Fellowship das Projekt barrierefreie digitale Karten und Navigation sowie das Projekt «Barrierefreie Fussgängerwege». Das Ziel ist es, mobilitätseingeschränkte Personen mit einer App bei der Navigation durch den urbanen Dschungel zu unterstützen. Eine Person, die mit dem Rollstuhl fährt oder blind ist, kann den Barrieren auf dem Weg von A nach B oft nicht selbstständig ausweichen. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass dies die Bewegung und Planbarkeit von Routen in Städten einschränkt oder gar verhindert. Google Maps sowie andere digitale Karten enthalten beschränkte Informationen zur Barrierefreiheit und die Bedienung ist nicht gerade einfach. Deshalb erforschen wir ein Konzept für eine App, mit der personalisierte Routen ausgewählt werden können, auf denen die Nutzer:innen hindernisfrei ans Ziel kommen.
Wie genau kann eure App barrierefreie Routen vorschlagen?
Damit wir barrierefreie Fussgängerwege anzeigen können, mussten wir zuerst Konzepte entwickeln, wie wir Barrieren bestmöglich erfassen können. Möglichkeiten sind die manuelle Erfassung vor Ort, eine halbautomatische Erfassung anhand von Kameras und Sensoren an Fahrzeugen (3D-Aufzeichnung), oder eine Kombination davon. Für die manuelle Erfassung vor Ort haben wir die App «CaptureAndGo» entwickelt. Unsere Vision ist es, die Daten öffentlich verfügbar zu machen und mittels Crowdsourcing auszubauen. Zwei Informatik-Master-Studentinnen (Sophy Chong und Lina Witzel) haben pilotmässig mittels der App im Kreis 1 alle Barrieren erfasst und kategorisiert. Sie waren dafür eine ganze Woche unterwegs und fotografierten Steine, Stufen und andere Barrieren.
Das Video gibt einen kleinen Einblick in diesen Prozess.
Nach der Erfassung von Barrieren sollen die Nutzer:innen durch eine noch zu entwickelnde App (Routing App) mit einem Filter auswählen können welche Bedürfnisse sie haben (e.g. gewisse Breite oder Steigung des Weges für einen Rollstuhl) und sicher ans Ziel gelotst werden.
Arbeitet ihr an weiteren Projekten im Bereich Mobilität?
Ja, wir erforschen weitere Konzepte, zum Beispiel wie sehbehinderte Personen digitale Karten explorieren können. Dazu haben wir die App «TouchExplore» entwickelt, mit der die Informationen auf einer digitalen Karte über verschiedene Sinne wahrgenommen werden können. Personen können mit ihrem Finger über den Bildschirm fahren. Bewegt sich der Finger über einen Fluss ertönen Wassergeräusche, bei einer Tramschiene vibriert das Gerät. Diese neuartige Ausgabemöglichkeit ermöglicht eine uneingeschränkte Nutzung von digitalen Karten. Der Prototyp von TouchExplore kann im App Store heruntergeladen werden.
Ausserdem befasst sich unsere Doktorandin Marziyeh Bamdad im Rahmen ihrer Dissertation mit dem Thema assistierende Technologien für die Navigation von sehbehinderten Personen durch Computer Vision.
Nebst Mobilität, mit welchen Themen befasst ihr euch gerade im ICT Accessibilty Lab?
Es laufen momentan viele verschiedene Projekte zu Bildungsthemen sowie zu künstlicher Intelligenz und Ethik.
- Beim SNF Bridge Discovery Projekt «Accessible Scientific PDFs for All” möchte PhD-Student Felix Schmitt-Koopmann mithilfe von KI den Prozess zur Erstellung von barrierefreien wissenschaftlichen PDFs erleichtern. Besondere Aufmerksamkeit richten wir auf mathematische Formeln in den PDFs.
- Im Swiss University Projekt zur Gestaltung von barrierefreiem Unterricht analysieren wir den Unterrichtablauf, identifizieren Barrieren, interviewen Stakeholder (Studierende und Dozierende), erstellen einen Leitfaden und Sensibilisierungsvideos. Das langfristige Ziel ist es eine Plattform zu schaffen, die allen Hochschulen zur Verfügung steht und einen Austausch ermöglicht.
- Ein weiteres Swiss University Projekt ist Teil der hochschulweiten Initiative «Swiss Digital Skills Academy». Darin befasst sich die wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin Oriane Pierrès mit der Entwicklung von barrierefreien OER (frei zugänglichen Lernmaterialien).
- Oriane ist ausserdem dabei, die ethischen Biases (Voreingenommenheit aufgrund von z.B. ungenügenden Daten) von künstlicher Intelligenz zu untersuchen. Personen mit Behinderungen werden nämlich oftmals von KI-Algorithmen benachteiligt. Beispiele sind Rollstuhlfahrer, die nicht von selbstfahrenden Autos erkannt werden und Personen mit Autismus, die im Vorstellungsgespräch von einem KI-System schlecht bewertet werden.
Mit wem arbeitet ihr in euren Projekten zusammen?
Wir arbeiten intern mit ZHAW-Forschenden und Studierenden zusammen, sowie extern mit Partnern aus der Praxis und Forschung. Je nach Projekt sind dies zum Beispiel andere Hochschulen wie ETH Zürich, EPFL, Universität Zürich; externe Organisationen wie WHO, UNESCO, verschiedene Behindertenorganisationen; öffentliche Partner wie die Stadt Zürich; oder Unternehmen. Wir sind froh, dass wir ein grosses Netzwerk aufbauen konnten und schweizweite sowie internationale Kooperationen stattfinden.
Wo siehst du persönlich den grössten Handlungsbedarf im Bereich Barrierefreiheit?
Handlungsbedarf besteht in sehr vielen Bereichen. Ein zentraler Bereich ist sicherlich die Bildung. Einerseits müssen Bildungsangebote zugänglich gemacht werden – dafür können digitale Tools entwickelt werden. Andererseits wäre es sinnvoll, bereits angehende Studierende und Dozierende für das Thema zu sensibilisieren. Wenn etwa Studierende ein Modul zur Barrierefreiheit besuchen, können sie dies in Zukunft in der Praxis anwenden. Es ist viel besser, wenn z.B. digitale Inhalte schon in ihrer Konzeption barrierefrei gestaltet werden als dies im Nachhinein überarbeiten zu müssen. Ich würde es sehr begrüssen, wenn Engineering-Studierende in Zukunft ein Pflichtfach zum Thema «digitale assistierende Technologien» besuchten.
Ein grosses Anliegen meinerseits wäre auch die Nachwuchsförderung von Forscher:innen mit Behinderungen, damit ihre Perspektiven und Forschungsideen stärker aufgenommen werden. Meines Erachtens sind die Rahmenbedingungen für Forschende mit Beeinträchtigungen wie mich leider nicht ideal – täglich bin ich mit vielen Barrieren konfrontiert.
Ein anderes Thema habe ich bereits angesprochen: die Mobilität. Hier kann sehr viel verbessert werden, zum Beispiel im öffentlichen Verkehr. Es ist wichtig, dass die ganze Mobilitätskette angeschaut wird – vom Startpunkt bis zum Zielort und die verschiedenen Systeme dazwischen verknüpft werden. Dank KI und Robotik können hier immer bessere Tools entwickelt werden. Unsere Forschung kann dazu beitragen, aber ideal wäre es, wenn in allen Gemeinden für die wichtigsten Quartiere barrierefreie Wege existieren. Es gibt noch viel zu tun!
Das Interview von Johanna Seiwald mit Alireza Darvishy ist zuerst erschienen auf Digital Futures Lab, Community Blog der ZHAW.